Legt der Anspruchsteller das Sparbuch nicht im Original, sondern nur einen Ausschließungsbeschluss vor, mit dem das Sparbuch für kraftlos erklärt worden ist, ist dies ein starkes Indiz für eine infolge der Auszahlung des Sparguthabens erfolgte Entwertung oder Vernichtung des Sparbuchs, unabhängig davon, ob das Kreditinstitut sich an dem Aufgebotsverfahren beteiligt hat oder nicht1.
Der Anspruch auf Auszahlung des Sparguthabens aus § 700 Abs. 1 Satz 1, § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB2, der mit dem Auskunftsbegehren vorbereitet werden soll, ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Erbin das Sparbuch nicht im Original vorgelegt hat.
Das Sparbuch ist ein qualifiziertes Legitimationspapier im Sinne von § 808 BGB3, das gemäß § 808 Abs. 1 BGB den Schuldner grundsätzlich berechtigt, aber nicht verpflichtet, an den Urkundeninhaber ohne Überprüfung seiner materiellen Berechtigung fällige Zahlungen zu leisten4. Nach § 808 Abs. 2 Satz 1 BGB ist der Schuldner nur gegen Aushändigung der Urkunde zur Leistung verpflichtet.
Ist die Urkunde abhandengekommen oder vernichtet worden, kann sie gemäß § 808 Abs. 2 Satz 2 BGB im Wege des Aufgebotsverfahrens (§ 483 FamFG) für kraftlos erklärt werden, sofern wie hier keine abweichenden landesrechtlichen Vorschriften im Sinne von § 483 Satz 2 FamFG oder Art. 102 Abs. 2 EGBGB bestehen. Die Kraftloserklärung ersetzt die Vorlegung der Urkunde und ermöglicht dem Berechtigten die Geltendmachung des Rechts trotz Verlusts der Urkunde, ohne dem Gläubiger eine stärkere Rechtsposition zu verschaffen, als er sie vorher innehatte5. Dies gilt auch für das streitgegenständliche Sparbuch, so dass die Vorlage des Ausschließungsbeschlusses vom 29.02.2016 die Vorlage des Sparbuchs im Original ersetzt.
Rechtsfehlerhaft ist dagegen die Annahme des im hier entschiedenen Fall in der Vorinstanz tätigen Oberlandesgericht Dresdens, die Sparkasse trage die volle Beweislast für die bereits erfolgte Auszahlung des Sparguthabens in gleicher Weise wie bei Vorlage eines nicht entwerteten Sparbuchs6.
Wird ein nicht entwertetes Sparbuch vorgelegt und ist wie hier nur streitig, ob der Anspruch auf Auszahlung dieses Guthabens von dem Kreditinstitut bereits erfüllt worden ist, trägt das Kreditinstitut die Darlegungs- und Beweislast für die Erfüllung des Auszahlungsanspruchs7. Eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Auszahlung kommt nicht allein deshalb in Betracht, weil der Inhaber des Sparbuchs über Jahrzehnte keine Eintragungen vornehmen ließ oder jedenfalls nach dem Vorbringen des Kreditinstituts die handelsrechtliche Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist8.
Bei dieser Beweislastverteilung verbleibt es grundsätzlich auch dann, wenn das Sparbuch im Wege des Aufgebotsverfahrens für kraftlos erklärt worden ist. Allerdings ist, wenn zwischen den Parteien die zwischenzeitliche Auszahlung des Sparguthabens streitig ist, im Rahmen der gemäß § 286 ZPO vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Fallumstände zu berücksichtigen, dass der Anspruchsteller das Sparbuch nicht im Original, sondern nur einen Ausschließungsbeschluss vorlegt, mit dem das Sparbuch für kraftlos erklärt worden ist9. Denn in der bisherigen Rechtsprechung wird die Ablehnung einer Beweislastumkehr maßgeblich darauf gestützt, dass der jeweilige Anspruchsteller das nicht entwertete Sparbuch in Händen hatte und keine Umstände dargetan oder ersichtlich waren, die darauf schließen ließen, das beklagte Kreditinstitut sei aus Gründen, die dem Anspruchsteller zuzurechnen seien, an der Entwertung gehindert gewesen10. Legt der Anspruchsteller wie hier die Erbin aber nur eine Kraftloserklärung vor, ist dies ein starkes Indiz für eine infolge der Auszahlung des Sparguthabens erfolgte Entwertung oder Vernichtung des Sparbuchs. Dies gilt was das Oberlandesgericht Dresden weiter rechtsfehlerhaft verkannt hat unabhängig von der Frage, ob das Kreditinstitut sich an dem Aufgebotsverfahren beteiligt hat oder nicht.
Abgesehen davon hat sich das Oberlandesgericht Dresden im vorliegenden Fall nicht umfassend mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen auseinandergesetzt, was einen revisionsrechtlich relevanten Verstoß gegen § 286 ZPO darstellt11.
So hat das Oberlandesgericht Dresden angenommen, der Erbin könne nicht entgegengehalten werden, dass sie sich den Ausschließungsbeschluss erschlichen hätte. Dabei hat es nicht in Erwägung gezogen, dass die Erbin in ihrer eidesstattlichen Versicherung, die sie mit dem Antrag auf Durchführung des Aufgebotsverfahrens eingereicht hat, angegeben hat, ihr sei erst im Jahr 2014 bekannt geworden, dass zum Nachlass des Erblassers das von der Sparkasse ausgegebene Sparbuch gehört habe, obwohl das von ihr im Jahr 1999 erstellte Nachlassverzeichnis zeigt, dass sie bereits damals nicht nur von dem Girokonto bei der Sparkasse, sondern auch von dem Sparguthaben und seiner Höhe Kenntnis hatte. Dieser von der Sparkasse geltend gemachte Widerspruch, der einen engen Bezug zur eigentlichen Beweisfrage aufweist, wird zwar im Rahmen des Parteivortrags referiert, aber nicht in die Beweiswürdigung und in die Erwägungen zur Beweislast einbezogen, auch nicht im Zusammenhang mit den weiteren Verhaltensweisen der Erbin und ihres Ehemannes, die nach Auffassung des Oberlandesgericht Dresdens eine niedrige, zu unlauteren Handlungen bereite Gesinnung der Erbin und ihres Ehemannes belegen.
Zudem hat das Oberlandesgericht Dresden im Rahmen seiner Beweiswürdigung nicht den von der Sparkasse geltend gemachten Widerspruch im Verhalten der Erbin berücksichtigt, die sich einerseits vehement für die Erstattung der an Rechtsanwalt W. ausgezahlten 3.338, 17 DM eingesetzt hat und sich andererseits nicht um die Auszahlung des Sparguthabens in Höhe von fast 100.000 DM gekümmert haben will, obwohl sie von dessen Existenz wusste. Auch dieses Argument wird im Berufungsurteil nur im Rahmen der Schilderung des Parteivorbringens referiert, aber nicht bei der Würdigung des Oberlandesgericht Dresdens, welche Geschehensabläufe möglich erscheinen, berücksichtigt.
Ein weiterer revisionsrechtlich relevanter Verstoß gegen § 286 ZPO liegt in der Annahme des Oberlandesgericht Dresdens, die Aussage der Zeugin Ho. zum Verbleib des Sparguthabens sei unergiebig, weil der von dieser Zeugin geschilderte Geschehensablauf äußerst ungewöhnlich wäre. Denn dieser Ablauf lässt sich wie die Revision zutreffend und auf bereits in den Tatsacheninstanzen gehaltenen Vortrag gestützt geltend macht ohne Weiteres damit erklären, dass die Auszahlung des Sparguthabens keine Probleme aufgeworfen habe, während die Klärung des Streits über die Erstattung des an Rechtsanwalt W. ausgezahlten Betrags zurückgestellt worden sei, um dies in einem späteren Termin in Anwesenheit der Vorgesetzten der Zeugin Ho. in einer anderen Filiale zu erörtern, zumal die Sparkasse sich in dieser Sache mit der Bitte um Begutachtung an den Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverband gewandt habe, dessen Antwort erst vom 23.03.1999 datiere. Die Nichtberücksichtigung dieser Erklärungsmöglichkeit stellt einen Verstoß gegen die Denkgesetze dar. Denn ein solcher Verstoß liegt unter anderem dann vor, wenn der Tatrichter Indiztatsachen, die sich zwanglos mit dem gegensätzlichen Vortrag beider Parteien vereinbaren lassen, nur mit dem Vortrag einer Partei für vereinbar hält, also deren Ambivalenz nicht erkennt oder ihnen Indizwirkungen zuerkennt, die sie nicht haben können12.
Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht Dresden bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, und das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Es war daher aufzuheben (§ 562 ZPO). Da die Sache nicht zur Endentscheidung reif war, war sie zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht Dresden zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Bundesgerichtshof hat dabei von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 18. Januar 2022 – XI ZR 380/20
- Ergänzung zu BGH, Urteil vom 04.06.2002 – XI ZR 361/01, BGHZ 151, 47, 50[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 18.03.2008 – XI ZR 454/06, BGHZ 176, 67 Rn. 13; und vom 14.05.2019 – XI ZR 345/18, BGHZ 222, 74 Rn. 23 ff.[↩]
- BGH, Urteile vom 30.10.1990 – XI ZR 352/89, WM 1990, 2067, 2069; und vom 07.07.1998 – XI ZR 351/97, WM 1998, 1623, 1624[↩]
- Staudinger/Marburger, BGB, Neubearb.2015, § 808 Rn. 21; Erman/Wilhelmi, BGB, 16. Aufl., § 808 Rn. 2; Grüneberg/Sprau, BGB, 81. Aufl., § 808 Rn. 1, 4[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 01.02.2005 – X ZR 10/04, NJW 2005, 1774, 1775; OLG Karlsruhe, WM 2015, 1146; Staudinger/Marburger, BGB, Neubearb.2015, § 808 Rn. 35; jurisPK-BGB/Alfes/Eulenburg, 9. Aufl., § 808 Rn. 29; Jacobi in Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Band – IV – 1, 1917, S. 394; Buck-Heeb, WuB 2015, 481, 482[↩]
- OLG Dresden, Urteil vom 30.07.2020 – 8 U 1827/19[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 21.09.1989 – III ZR 55/89 2; BGH, Urteil vom 04.06.2002 – XI ZR 361/01, BGHZ 151, 47, 49; OLG Zweibrücken WM 2020, 2424[↩]
- BGH, Beschluss vom 21.09.1989 – III ZR 55/89 2; BGH, Urteil vom 04.06.2002 – XI ZR 361/01, BGHZ 151, 47, 50 f.; OLG Frankfurt am Main, ZIP 2011, 1095, 1096; OLG Zweibrücken WM 2020, 2424 f.[↩]
- so auch Schnauder, jurisPR-BKR 6/2021 Anm. 4, C.II.[↩]
- BGH, Beschluss vom 21.09.1989 – III ZR 55/89 2; BGH, Urteil vom 04.06.2002 – XI ZR 361/01, BGHZ 151, 47, 50[↩]
- vgl. nur BGH, Urteile vom 29.06.2010 – XI ZR 104/08, BGHZ 186, 96 Rn. 38; und vom 15.03.2016 – XI ZR 122/14, WM 2016, 780 Rn.19, jeweils mwN; BGH, Urteile vom 18.01.2018 – I ZR 150/15, WM 2018, 1848 Rn. 44; und vom 19.07.2019 – V ZR 255/17, WM 2019, 2214 Rn. 26[↩]
- BGH, Urteile vom 22.01.1991 – VI ZR 97/90, NJW 1991, 1894, 1895; vom 14.01.1993 – IX ZR 238/91, NJW 1993, 935, 938; vom 16.04.2002 – X ZR 28/01 14 und 18 sowie vom 24.04.2001 – VI ZR 36/00, WM 2001, 1454, 1457, insoweit in BGHZ 147, 269 nicht abgedruckt[↩]